WDR 5 Scala, 24.10.2011, „shortcuts“
Ulrike Burgwinkel über die Hagener Premiere mit dem Titel „Shortcuts“
Das Theater Hagen feiert in dieser Spielzeit sein lO0jähriges Bestehen. Es wird trotz akuten Geldmangels gefeiert mit ganz besonderen Aufführungs-Leckerbissen. Zum Spielzeitauftakt im Ballett ist es dem Hausherrn Ricardo Fernando gelungen, den berühmten niederländischen Choreographen Nils Christe ans Haus zu holen, um ein Stück zu erarbeiten nach Henryk Goreckis (Goretzki) „Requiem für eine Polka“. Fernando selbst steuert den ersten und dritten Teil des Ballettabends bei, nutzt ebenfalls Musik des polnischen Zeitgenossen und in „Drumming and Voices“, also Schlagwerk und Stimme, eine Collage verschiedener Komponisten.
„Shortcuts“, so heißt ein hochgelobter Episodenfilm des 2006 verstorbenen amerikanischen Regisseurs Robert Altman und als „shortcuts“, Abkürzungen, bezeichnet man auch eine bestimmte Tastaturbelegung auf dem PC.
Mit letzterem hat der dreiteilige Hagener Ballettabend nichts zu tun, naheliegend die Gemeinsamkeit mit dem Film: Beziehungen, tänzerisch als Solo, Duo, Trio, Quartett und Ensemble darstellbar, die scheinbar unabhängig voneinander ablaufen und doch durch ein hintergründiges Konzept miteinander verbunden sind.
Zudem drängt sich eine weitere amerikanisch inspirierte Assoziation auf: wie ein Sandwich ist der Abend gebaut: den appetitanregenden Anfang macht Hausherr Ricardo Fernando, den reichhaltigen Mittelteil steuert der niederländische Choreogaph Nils Christe bei und das meist nicht so ergiebige untere Stücklein wieder Fernando.
Fernandos „Präludium zu einem Requiem“ beginnt mit Aufblende, Abblende: die Tänzer an einem Podest, einer Sprossenwand, einer Tür: sekundenkurz zu sehen und schon wieder verschwunden. Diese Momentaufnahmen weiten sich aus zu Bewegungsstudien: absolut musiksynchron, daher auch oft repetitiv, mitunter eher depressiv wie unter einer Last gebeugt, dann flirrend wie elektrisiert in schnellen Tempo, verharrend in der Stille.
Erstaunlich.
Das als „Highlight“ angekündigte Stück des Niederländers Nils Christe, die Einstudierung des „Kleinen Requiems“ nach Gorecki, ist auch tatsächlich eines. Das zentrale Bühnenmöbel: eine drehbare Bank mit Unterschlupfmöglichkeiten, drauf, drunter, drüber, daneben spielen sich die Menschengeschichten ab. Ein fast zeitlupenhaftes, zärtliches Duo wird gefolgt von einem expressiven Solo mit den typisch geflexten Füßen, in Bodennähe und voller Erdhaftigkeit: ungrazile Bewegungen voller Wucht. Oder alle 7 Tänzer springen im Dominoeffekt über die Bank, nutzen sie als Lagefläche fürs Knie anwinkeln oder zur Bauchpresse oder wie einen Tisch mit den Ellenbogen zum Abstützen und fuchteln ungeheuer präzise aufeinander abgestimmt mit Armen und Händen. Der ruhige melancholische Schluss schließt den Kreis zum Anfang.
Ergreifend.
„Voices and Drumming“ schließt den Abend, und das wäre so nicht nötig gewesen. Nach den beiden Gorecki-Requien und den überaus stimmigen Choreographien braucht das Publikum Zeit zum Atmen, zum Durchatmen auch.
Da muss man keins mehr drauf setzen.