WDR 3 Mosaik, 24.10.2011, „Shortcuts“
Ein Beitrag von Nicole Strecker
Das Ballett Hagen zeigt „Shortcuts“ von den Choreografen Nils Christe und
Ricardo Fernando.
Seit 100 Jahren gibt es nun schon das Theater Hagen — und wo andere, auch größere Städte längst ihre „dritte Sparte“ abgeschafft haben, widerstehen die Bürger der Ruhrgebietsstadt allen Einspar-Anträgen und halten hartnäckig an ihrer Tanztradition fest. Seit sieben Jahren leitet der Brasilianer Ricardo Fernando das l5köpfige Ballettensemble und kreiert einen Großteil der Choreografien. Für den neuen Abend „Shortcuts“ jedoch hat Fernando einen Kollegen engagiert: Den Holländer Nils Christe
, langjähriger Tänzer beim berühmten Nederlands Danse Theatre und Choreograf für renommierte Kompanien wie das Ballett der Pariser Oper und die staatlichen Ballettkompanien von Dänemark, Schweden oder Finnland. In Hagen wollen er und Ricardo Fernando nun gemeinsam ein tänzerisches Totengedenken präsentieren: Beide Choreografen haben jeweils zu einer Kompo-sition von Henryk Gorecki gearbeitet, dazu noch ein drittes Stück z„um überraschenden Musikmix aus Philip Glass, Mozart, Bach und Maurice Ravel. Herausgekommen sind „Short Cuts“ - kurze Episoden aus der Tanzwelt.
Stadttheaterchoreografen gelten gemeinhin als bedrohte Art, und so muss in Nordrheinwestfalen jeder eifrig danach streben, ganz anders zu sein, seiner Stadt eine ganz eigene Prägung zu geben. So sucht man beispielsweise in Dortmund das Revival des Handlungsballetts, pflegt in Münster die Melancholie, in Gelsenkirchen bis vor kurzem den Sexappeal. Und in Düsseldorf-Duisburg reift die ästhetische Avantgarde von Weltformat. Nach Hagen reist man, wenn man tänzerischen Enthusiasmus und Ehrgeiz erleben will — ein bisschen naiv, aber von schwer zu widerstehendem Charme. So nun auch im neuesten Abend: Da lädt Ballettchef Ricardo Fernando einen Renommier-Choreografen nach Hagen ein, um eines von dessen durchaus zeitkritisch, ja manchmal auch politisch grundierten Stücken einzustudieren. Und dann ‘ergänzt‘ er quasi dessen etabliertes Werk mit einer eigenen Choreografie. Der Gast ist Nils Christe und seinem 2006 entstandenen „Kleinen Requiem“ zur Komposition von Henryk Gorecki hat Ricardo Fernando nun ein „Präludium zu einem Requiem“, ebenfalls zur Musik von Gorecki vorangestellt.
Nachtblaues Licht glimmt auf und verlöscht sofort wieder, in den kurzen Spots werden hochemotionale Szenen erkennbar: Ein Mann, der sich an eine geschlossene Tür presst, als versuche er sie gewaltsam zu öffnen. Eine Wand, die drei Tänzer erklimmen als wollten sie sich aus Enge und Isolation befreien. Und eine Menschengruppe, aus der plötzlich die Bewegung wie eine panikartige Erregung ausbricht. Vielleicht der Anfang einer Rebel-lion, die aber sofort wieder in Fatalismus erschlafft.
Der einzelne Mensch als mitratterndes Rädchen im großen Gesellschaftsgetriebe, als zerbrechliche Kreatur, die in ihren Gefühlskreisläufen haltlos trudelt — zerrissen zwischen Hoffen und Zagen. Ricardo Fernando gelingt eine schön-traurige Atmosphäre, aber weil seine Choreografie recht unbekümmert an der Oberfläche der redundanten Muster von Goreckis Komposition treibt, bleibt seine Tanzdepression doch eher pittoresk als pessimistisch — eben nur das im Titel angekündigte Vorspiel zum dann folgenden echten Requiem von Nils Christe, dem zweiten Stück des Abends.
Ein weißer, rollbarer Steg wird hier von den Tänzern im Kreis bewegt wie ein Uhrzeiger, der rückwärts läuft, die Zeit zürückdreht. Eine Frau sitzt jeweils am Anfang und Ende des Stückes in melancholischer Pose am Rande des Steges wie eine Trauernde, die in den Fluss des Styx, der Grenze zwischen Lebenden und Toten, blickt. Dazwischen versucht ein Mann, sie zurück ins Leben zu tragen. Sie kauert auf seinen Händen wie ein Kind oder hängt an seinem Rücken wie eine schwere Last. In Ensembleszenen scheint grotesk-abgründiges Zeitkolorit auf: Frauen, die sich wie im mittelalterlichen Veitstanz auf dem Boden wälzen. Und Menschen, die mit militärisch-schnittigen Armen eine Schlacht am Reißbrett zu entwerfen scheinen, aber irgendwann nur noch wild mit den Armen zappeln als treibe das Chaos sie in den Wahnsinn.
Nils Christes „Requiem“ begegnet den Abgründen von Goreckis Komposition mit großer choreografischer Sensibilität. Und das stets geschmeidige und doch so strapazierfähige Ballett Hagen tanzt die durchgeistigte Gefühlsintensität mit anrührendem Idealismus. Ungehemmt Austoben dürfen sie sich am Abend trotzdem noch — Ricardo Fernando ist nun mal kein Typ fürs Sterben in Schönheit. So beendet er das Totengedenken mit einer anarchischen Kultgemeinschaft, die tänzerisch Rave, Folklore und auch schon mal ganz ironisch das Posing von Bodybuildern mixt. Und musikalisch aus Philip Glass und verfremdeten Interpretationen von Bach und Ravel ein ziemlich bizarres Potpourri kreiert. Durchgeknallte Tanzsequenzen mit wenig Sinn, aber viel Show und so lustvoll präsentiert, dass man den leichtsinnigen End-Enthusiasmus gern duldet. So bleibt Hagen Nordrheinwestfalens Euphorie-Ensemble, wo man lieber übermütig liebt als trauert.